Schönheit ist Wahrheit und Wahrheit ist schön Organisiert man eine Ausstellung, die einen Überblick über das Schaffen eines Künstlers (m/w/d) geben soll, so geschieht dies üblicherweise in Form einer Geschichte. Diese Geschichte enthält für gewöhnlich die Geburt des Künstlers (m/w/d) („Geboren in Paderborn“), einen richtungsweisenden Moment in seiner/ihrer/es Karriere („Er/Sie/Es zog dann nach Paris, wo er/sie/es seine/ihre/es philosophischen Studien an der Sorbonne fortsetzte“), und eine Phase des Strebens nach künstlerischem, kulturellem oder politischem Erfolg („Diese Identitäten prägen seine/ihre/es Arbeit seit über 30 Jahren“). Diese Berichte von individueller Entwicklung sind – wenn auch sachlich korrekt – konstruiert, oder genauer gesagt: werden von Kunstfachleuten fabriziert und aufrechterhalten. In einem Interview über die gesellschaftlichen Auswirkungen von quantitativen Metriken spielt der Soziologe Steffen Mau auf diese Praxis an, indem er darlegt, dass „fiktionale Erwartungen“ für Künstler (m/w/d) „hauptsächlich über eine Story im Stile einer auratischen, in der Zukunft eintretenden Erfolgsgeschichte“ hergestellt werden.

Er fährt fort: So wird man in der jeweiligen Künstlerpersönlichkeit etwas sehen, was noch vollkommen vage und spekulativ ist, aber in Zukunft dazu führen kann, dass er/sie/es eine bestimmte Marktposition und eine bestimmte Bewertung am Markt erfahren wird. Es geht um eine dynamische Aufwärtsbewegung von Reputation, eine Positivvision. Das Erzählen dieser Storys bedarf nach wie vor der Expertenkultur, also professioneller Kritiker/innen, Kunstvermarkter/innen oder -vermittler/innen und Berater/innen. Maus Einschätzung ist angelehnt an die Arbeit des Soziologen Olav Velthuis, dessen Buch Talking Prices eine Studie der Prinzipien zur Bepreisung zeitgenössischer Kunst darstellt. Laut Velthuis sind es Narrative archetypischer Art (z.B. Tragödie, Erfolgsgeschichte, Bildungsroman), die – im Gegensatz zu ökonomischen Gesetzen wie Angebot und Nachfrage – die Kunstmarktpreise bestimmen. Thema dieser Geschichten sind sowohl Individuen als auch Entwicklungen in dem Bereich als Ganzem. Wie Mau hebt auch Velthuis hervor, dass diese Narrative kollektiv von Menschen, die mit Kunst arbeiten, erzählt und nacherzählt werden, wobei er zugleich ihren fiktiven Charakter betont. Er schreibt: „Es geht nicht darum, ob dieses Narrativ bzw. die, die folgen werden, wahrheitsgetreu in Bezug auf die historische Wirklichkeit sind oder nicht. Im Grunde muss ihr Wahrheitsgehalt als zumindest fragwürdig eingestuft werden.“ Solche Narrative tragen zur immateriellen Qualität von Einzigartigkeit und Authentizität bei, die sowohl in Kunstwerken als auch bei Künstlerpersönlichkeiten wahrgenommen wird, der „Aura“, so der von dem Literaturkritiker Walter Benjamin geprägte Begriff. Die Erfahrung dieses Phänomens, abstrakt und ungreifbar per Definition, ist aufgeladen mit Widersprüchen und Zweideutigkeit. Beispielsweise wird einerseits weithin akzeptiert, dass zeitgenössische Kunst ein gänzlich professionalisiertes Feld ist, auf dem das Kunstschaffen, ebenso wie eine Reihe damit verbundener Beschäftigungen zu dem Zweck unternommen werden, spezifische begleitende Ergebnisse zu erreichen. Andererseits wird auch angenommen – aber selten offen ausgesprochen –, dass Visionen vom aktuellen oder zukünftigen Stellenwert eines Künstlers (m/w/d nicht oder niemals wahr werden könnten (wie die Formulierung „fiktionale Erwartungen“ andeutet). Gleichermaßen werden die charakteristischen Qualitäten der Arbeit und Biographie eines Künstlers (m/w/d) als Produkt nur eines einzigen Individuums gesehen, während selten anerkannt wird, dass sie in Wirklichkeit dem Objekt oder Individuum zuteilwerden und in diesem Sinne der kollektive Ausdruck der gemeinsamen Ansichten, Werte und gelebten Erfahrungen der diskursiven Kunst-Welt sind.

Alle Zitate in Klammern entstammen Ausstellungsbeschreibungen auf der Website des MoMA, Museum of Modern Art, New York, https://www.moma.org, Stand März 2019. Steffen Mau und Uwe Vormbusch, „Likes statt Leistung. Ein Gespräch zwischen Uwe Vormbusch und Steffen Mau über die fortschreitende Quantifizierung des Sozialen.“ Texte zur Kunst 110 (Juni 2018), https://www.textezurkunst.de/110/likes-and-performance. Olav Velthuis, Talking Prices, Symbolic Meanings of Prices on the Market for Contemporary Art(Princeton University Press, 2005), 145. Siehe auch Jens Beckert, Imagined Futures: Fictional Expectations and Capitalist Dynamics(Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 2016), 93: „Die Fiktionalität von literarischen Texten wir darüber hinaus offen kommuniziert, während sie im Falle fiktionaler Erwartungen verborgen bleibt.“